26. Mai 2021 / Allgemeines

Kampf gegen Kindesmissbrauch soll Chefsache werden

Hat die Corona-Pandemie zu mehr Fällen sexualisierter Gewalt geführt? Das ist statistisch nicht so leicht zu beantworten. Experten sehen aber zumindest Hinweise, dass das der Fall ist.

Holger Münch (r), Präsident des Bundeskriminalamts, und Johannes-Wilhelm Rörig, Bundesbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, in Berlin.
von Martina Herzog und Josefine Kaukemüller, dpa

Mit drastischen Worten hat der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung vor einem Scheitern im Kampf gegen Kindesmissbrauch gewarnt.

«Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert», erklärte Johannes-Wilhelm Rörig am Mittwoch in Berlin. Er warnte insbesondere vor Engpässen bei der Polizei, die Ermittlungen ausbremsen könnten.

Gemeinsam mit dem Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, stellte Rörig die jüngsten Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik zu Gewalt gegen Kinder vor. Demnach hat die Polizei im vergangenen Jahr erneut mehr Fälle von Kindesmissbrauch und von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert.

So stieg die Zahl der Misshandlung Schutzbefohlener um 10 Prozent auf 4918 Fälle, bei Kindesmissbrauch stieg sie demnach um 6,8 Prozent auf über 14 500 Fälle. Um mehr als 50 Prozent wuchs die Zahl erfasster Fälle von Kinderpornografie auf 18 761. 152 Kinder kamen gewaltsam zu Tode. Die meisten dieser Opfer, nämlich 115, waren unter 6 Jahre alt. Die Gesamtzahl stieg im Vergleich zu 2019 um 40.

Auch die Zahl der Fälle, in denen Minderjährige selbst Missbrauchsabbildungen verbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, wuchs stark. Sie hat sich laut Statistik im letzten Jahr im Vergleich zu 2018 mehr als verfünffacht (7643 Fälle 2020, 1373 Fälle 2018). Soziale Medien spielten hier eine wichtige Rolle. Hinter den Zahlen stehe «zehntausendfaches Leid von Kindern und Jugendlichen», sagte Rörig.

Nicht alle für 2020 gemeldeten Taten ereigneten sich indes im vergangenen Jahr, wie Münch erläuterte. Die Statistik ist eine Ausgangsstatistik, erfasst also die Fälle zu einem Zeitpunkt, an dem die Polizei ihre Bearbeitung abschließt. So sei mehr als ein Viertel der erfassten Straftaten nicht 2020, sondern bereits davor geschehen. Zudem gebe es eine hohe Dunkelziffer.

Ob die gestiegenen Zahlen tatsächlich eine wachsende Zahl von Straftaten oder vielmehr erfolgreichere Ermittlungen widerspiegeln, diese Frage ist nach Angaben von BKA-Chef Münch «extrem schwer zu beantworten». Es gebe immer nur Hinweise. Dass die Corona-Pandemie eine Zunahme von Gewalt und auch sexualisierter Gewalt befördert habe, sei aber anzunehmen.

Davon geht auch der Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, Heinz Hilgers, aus. «In der Pandemie haben viele Familien unter hohem Stress auf engem Raum zusammengelebt. Die gestiegene Belastung vieler Eltern durch Home Schooling und Home Office bei oft mangelnder technischer Ausstattung haben den Stress verschärft», sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Rörig verlangte: «Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt muss in Deutschland insgesamt zur Chefsache werden.» Dabei gehe es «ganz zentral um das Verhältnis von Datenschutz und Kinderschutz» erklärte er unter Verweis auf die in Deutschland nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzte Vorratsdatenspeicherung. Dabei wären Anbieter verpflichtet, Telefon- und Internetverbindungsdaten der Nutzer bis zu zehn Wochen zu speichern, so dass Ermittler später bei Bedarf darauf zugreifen können. Einige Anbieter speicherten derzeit gar keine Daten, sagte Münch. Andere hielten sie bis zu sieben Tagen vor. Die Polizei müsse Hinweisen auf Kinderpornografie deshalb immer sehr schnell nachgehen.

Viele Meldungen erreichen die deutschen Behörden laut Münch täglich über die halbstaatliche Stelle NCMEC (National Center for Missing & Exploited Children) in den USA, die Hinweise auf Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern weltweit sammelt und an nationale Behörden weiterleitet. Ab Februar erwartet Münch auch mehr Hinweise aus Deutschland. Dann tritt eine im Frühjahr beschlossene Verschärfung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes in Kraft, wonach soziale Netzwerke dem BKA strafbare Postings zu Hasskriminalität oder Kinderpornografie melden müssen.

Münch lobte auch das Vorgehen der nordrhein-westfälischen Behörden: Dort würden zum Beispiel forensische Daten in einen gemeinsamen Speicher gegeben, auf die verschiedene Stellen zugreifen könnten, außerdem sei Personal massiv aufgestockt worden. NRW hat zuletzt – auch vor dem Hintergrund der Missbrauchsfälle im lippischen Lüdge, in Münster und Bergisch Gladbach – den Kampf gegen Kindesmissbrauch forciert. Beispielsweise soll ein Prototyp mit Künstlicher Intelligenz künftig Datenfluten nach Kinderpornografie und Kindesmissbrauch scannen und so die Arbeit der Staatsanwaltschaft unterstützen.

«Hinter jedem einzelnen Fall steht das Schicksal eines Kindes, das ein Leben lang unter dieser Tat zu leiden hat», sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). «Wir handeln mit aller Kraft, um Kinder davor zu schützen.» Nach Neuregelungen, die im Juli in Kraft treten, gilt: Wer Kinder sexuell misshandelt, Fotos und Bilder davon macht oder solche Aufnahmen verbreitet oder auch nur besitzt, soll demnach grundsätzlich als Verbrecher bestraft werden. Damit droht eine Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis.

Für die Zeit nach der Wahl im September forderte der Missbrauchsbeauftragte Rörig eine Kommission des Bundestags, in der Datenschützer, Kinderschützer, Ermittler und Unternehmensvertreter gemeinsam eine Strategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten.


Bildnachweis: © Kay Nietfeld/dpa
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