3. Oktober 2022 / Allgemeines

Selfies auf Güterwaggon - Die tödliche Gefahr

Für Likes in sozialen Netzwerken riskieren manche viel. Sogar ihr eigenes Leben. Bahn und Polizei werden nicht müde, vor der Gefahr zu warnen, auf Eisenbahnwaggons herumzuklettern.

Seit vielen Jahren führt die Deutsche Bahn gemeinsam mit der Bundespolizei und weiteren Partnern vielfältige Präventionsmaßnahmen durch, darunter auch Schulungen direkt an Gleisanlagen.
von Christian Thiele und Andr

Für ein Selfie mitten in der Nacht riskieren die zwei jungen Männer ihr Leben. Sie klettern in der Nähe von Kaiserslautern auf einen Güterwaggon. Als sich einer von ihnen oben aufrichtet, kommt er vermutlich mit dem Arm in die Oberleitung und erleidet einen heftigen Stromschlag. So berichtet es die Bundespolizei im Sommer nach der Befragung von Zeugen. Der 17-Jährige wird vom Waggon geschleudert und bleibt regungslos am Boden liegen. Rettungskräfte reanimieren ihn. Er ist schwer verletzt.

Solche Unfälle sind längst kein Einzelfall in Deutschland. Fast jeden Monat verunglücken Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, aber auch Erwachsene, weil sie einer Oberleitung zu nahe gekommen sind, wie eine Sprecherin der Bundespolizei in Potsdam sagt. «Ursächlich für diese Unfälle sind meist das Klettern auf Güterwagen und auf Strommasten oder das S-Bahn-Surfen.» Die Bundespolizei führt einen «überwiegenden Teil der Unfälle» darauf zurück, dass jemand ein Selfie von sich oder ein Foto auf einem Eisenbahnwaggon machen wollte - teils wegen einer Mutprobe oder schlicht aus Leichtsinn.

«Fast alle Unfälle endeten mit schwersten Verletzungen oder tödlich», sagt die Sprecherin. Adrian hat bei einem solchen Unglück seinen Freund verloren. Die beiden Jugendlichen kletterten 2019 im Landkreis Deggendorf in Bayern auf einen Güterwaggon. Dann der Stromschlag. Adrian überlebte schwer verletzt. «Ich weiß nicht, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Der Tag ist weg», sagte er ein Jahr danach dem Bayerischen Rundfunk noch sichtlich bewegt. Er musste erst wieder gehen lernen. «Auf der Intensivstation wollte ich immer aufgeben.»

Ein Zaun ist keine Lösung

Wie lassen sich solche Unglücke verhindern? Einen Zaun um alle Bahn-Anlagen zu setzen, ist aus Sicht der Bahn wegen der vielen Bahnhöfe und des riesigen Gleisnetzes von der Nordsee bis zu den Alpen schlichtweg nicht möglich. Angehörige verunglückter Kinder und Jugendlicher fordern genau das schon länger und geben sich nicht mit Warnschildern und Plakaten zufrieden. Eine Bahn-Sprecherin stellt aber klar: «Es ist verboten, Bahnanlagen zu betreten.»

Bahn und Bundespolizei sehen hauptsächlich einen Weg, damit weniger Menschen ihr Leben verlieren oder schwere Schäden ihrer Gesundheit davontragen: Aufklärung. «Seit April letzten Jahres haben wir unsere Aufklärungsanstrengungen noch einmal verstärkt», sagt die Bahnsprecherin. Sechs Präventionsteams seien bundesweit an Bahnhöfen, Gleisanlagen, in Schulen und Kindergärten unterwegs. «Das gemeinsame Ziel ist es, durch frühzeitige Information Unfälle zu verhindern.»

An einem verregneten September-Tag stehen die Schüler einer sechsten Klasse der Sekundarschule in Gröbers in Sachsen-Anhalt an Gleis 8 des Hauptbahnhofs in Halle. Viele der Zwölfjährigen seien auf dem Schulweg auf die Bahn angewiesen, sagt Lehrerin Maxi Klupsch. Bastian Peter ist einer der Präventionsbeauftragten der Bahn. Er erklärt den Schülern die Gefahren der Stromleitungen und Gleisanlagen, als der ICE 703 einfährt. Es geht gerade um die Sogwirkung fahrender Züge.

Gefahr immer wieder unterschätzt

Viele Jugendliche unterschätzen laut Peter die Gefahr durch Selfies auf Gleisen oder an vorbeirasenden Zügen sowie das Klettern auf stehenden Waggons. «Durch die Stromleitungen fließen bis zu 15.000 Volt. Da muss man nicht mal die Leitungen berühren, um einen Schlag zu bekommen mit lebensgefährlichen Folgen», warnt der 34-Jährige.

«Das sind 65 Mal mehr als in der Steckdose zu Hause», sagt auch die Sprecherin der Bundespolizei in Potsdam. Stromschläge passierten schon, wenn der Mindestabstand von 1,50 Meter nicht eingehalten werde. «Strom ist in der Lage, die Luft zu überspringen und auf einem Lichtbogen über den Körper zur Erde zu gelangen», warnt die Bundespolizei in einem Flyer. Der menschliche Körper, der zu zwei Dritteln aus Wasser bestehe, sei dann der «leitende Gegenstand».

«Wer also glaubt, das Klettern auf Bahn-Waggons sei cool und ungefährlich, der irrt gewaltig», heißt es. Und dennoch wird die Gefahr «in den meisten Fällen aus Unkenntnis oftmals völlig unterschätzt», räumt die Sprecherin ein. Die Polizei weiß nur zu gut, dass Bahnanlagen und Eisenbahnwaggons «verlockende Aufenthaltsorte» sind. Griffbereit ist das Handy. Es wird ein Selfie gemacht, das in sozialen Netzwerken wie Instagram hochgeladen wird.

Gefahr der Nachahmung

Dafür gibt es in der Regel viele Likes. «Diejenigen genießen dann mehr Ansehen», sagt der Medienpsychologe Frank Schwab von der Uni Würzburg. Weil viele übers Handy Zeuge dieser waghalsigen Aktionen werden, führe das zu einem Statusgewinn. Ein höheres Ansehen ist dem Fachmann zufolge auf diese Weise leichter zu erreichen als wenn jemand etwa vor der Schulklasse mit einem Streich auf sich aufmerksam macht. «Gab es früher 10 positive Feedbacks, sind es nun 10.000.»

Doch mit Fotos und Selfies an der Leiter eines Kesselwagens gefährden Kinder und Jugendliche nach Schwabs Auffassung nicht nur sich selbst: «Das führt dazu, dass die Idee Nachahmer findet.» Gegensteuern könnten aber Freunde und Bekannte, wenn «andere die Selbstinszenierung uncool finden und eine andere Haltung einnehmen».

In drei Viertel aller Fälle seien es Männer, die das Risiko auf sich nehmen. «Männer haben eine eingetrübte Risikowahrnehmung», sagt Schwab. Das beginne mit der Pubertät und ende mit Gründung einer Familie, was sich dann auch auf den Testosteronwert auswirke.

In Halle lauscht der zwölfjährige Paul den Ausführungen des Bahn-Präventionsexperten. Seine Eltern hätten ihm schon viel beigebracht, sagt er. Einige seiner Freunde seien bereits über die Gleise gelaufen. «Denen werde ich erzählen, wie gefährlich das ist.»


Bildnachweis: © Hendrik Schmidt/dpa
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