22. September 2021 / Allgemeines

Was der Fall Idar-Oberstein mit der Gesellschaft macht

Der Fall Idar-Oberstein erschüttert das Land. Er wirft aber auch ein Schlaglicht darauf, was die Pandemie mit der Gesellschaft macht.

Polizisten sichern am frühen Morgen die Tankstelle, in der ein 49-Jähriger einem 20 Jahre alten Verkäufer in den Kopf geschossen haben.
von Sophia Weimer, dpa

Idar-Oberstein/Berlin - Es ist ein Unbehagen, das sich breit macht. Der Sitznachbar im Zug, demonstrativ ohne Maske. Ein Kunde beim Bäcker ohne Mund-Nasen-Schutz, ohne Abstand - aber mit wütenden Worten zur Corona-Politik. Was tun?

Diese Frage stellen sich viele seit mehr als einem Jahr immer wieder. Und nun nach dem Verbrechen von Idar-Oberstein wohl noch mehr. Die Gräben scheinen tief. Zwischen denen, die sich unterdrückt fühlen von den Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Und denen, die die gemeinsamen Regeln einhalten, um sich und andere zu schützen. Es geht um Impfungen, Verschwörungstheorien - und um Masken. Wohl deswegen wurde nun ein 20 Jahre alter Mann erschossen.

Wie konnte es so weit kommen?

Für die Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty sind die Gegner der Corona-Politik nichts vollkommen Neues. «Dieses verschwörungsideologische Milieu war aus meiner Sicht vorher eher lose verstreut. In der Pandemie hatte man auf einmal ein gemeinsames Feindbild», sagt Lamberty, die Geschäftsführerin beim Center für Monitoring Analyse und Strategie (CeMAS) ist. «Corona hat diese Szene vereint.»

Was genau waren die Gedanken des Täters, als er am Samstagabend an einer Tankstelle ein Sechserpack Bier kaufen wollte und seine Maske aufsetzen sollte? Darüber lässt sich nur spekulieren. Was führte dazu, dass er sich entschloss, ohne Bier wegzufahren, etwa eine Stunde später mit einem Revolver zurückzukehren und den Tankstellen-Mitarbeiter zu erschießen? Er lehne die Corona-Maßnahmen ab und habe «keinen anderen Ausweg gesehen», als ein Zeichen zu setzen, sagt der 49-Jährige später den Ermittlern.

«Die Maske ist ja an sich etwas Neutrales, das ist eine Schutzmaßnahme und die wurde eben in der Pandemie zum absoluten Feindbild stilisiert von verschwörungsideologischen Kräften, von rechtsextremen Kräften», erklärt Lamberty. «Sie ist nun ein Symbol einer scheinbaren Unterdrückung auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite eben auch eine Form, dass man sich selbst als scheinbarer Widerstandskämpfer inszenieren kann.»

Corona macht gesellschaftliche Subgruppen sichtbar

Für viele fühlt sich die Stimmung seit Monaten aufgeheizt an. Anfangs der Pandemie hatten Soziologen die Idee, dass Corona die Menschen demütig machen und zusammenschweißen könnte. Davon spüren viele heute wenig. Ist die Gesellschaft gespalten in Corona-Leugner und andere? «Gesellschaften sind ja nie komplett vereint es gibt ja immer Subgruppen. Und ich glaube, Corona hat das einfach nochmal sichtbarer gemacht», sagt Lamberty.

Schon vor der Pandemie hätten sie und ihre Kollegen Studien gemacht: «Und da konnte man schon sehen, dass der Verschwörungsglaube mit einer gesteigerten Gewaltbereitschaft einhergeht.» Wenn man jetzt über das Verbrechen in Idar-Oberstein spreche, müsse man auch darüber sprechen, wieviel Gewalt es in den vergangenen eineinhalb Jahren schon gab. «Die Angriffe auf die Presse, die Angriffe auf Impfeinrichtungen, Aggressionen im Supermarkt, in Arztpraxen, mobile Impfteams, die Polizeischutz brauchen - da ist die ganze Zeit etwas in der Gesellschaft, was so aus meiner Sicht aber nie ernst genug genommen wurde.»

Verfassungsschutz beobachtet sogenannte Querdenker

Auch die Sicherheitsbehörden sehen eine wachsende Radikalisierung unter Kritikern der Corona-Politik. Von einer Unterwanderung der Proteste durch Rechtsextremisten oder von selbst erklärten Reichsbürgern, die die Bundesrepublik nicht anerkennen, war früh die Rede. Mittlerweile werden auch Teile der sogenannten Querdenker-Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet, wie das Bundesinnenministerium im April bekanntgab. Da die Szene sehr vielfältig ist, wurde eine eigene Kategorie mit dem Namen «Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates» dafür geschaffen.

Damit darf der Inlandsgeheimdienst Daten zu bestimmten Personen aus der Szene sammeln. Grund für den Schritt sei nicht etwa die Kritik an den Corona-Maßnahmen, wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang im Frühjahr betonten, sondern die Radikalisierung von Teilen der Bewegung. Seehofer führte hier wachsende Gewaltbereitschaft bei Demonstrationen an.

Die Tötung in Idar-Oberstein sieht das Innenministerium derzeit als Einzelfall. Die Tat zeige zwar «ein dramatisches Ausmaß an Verrohung in der Gesellschaft», sagte ein Sprecher am Mittwoch in Berlin. «Nach allen Erkenntnissen, die wir bisher haben, handelt es sich um einen Einzelfall» - wenngleich es ein extremer Einzelfall gewesen sei.

«Klare rote Linie bei Verschwörungsmythen»

Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, schilderte am Mittwoch ebenfalls Beobachtungen, dass sich Angehörige dieser Szene zunehmend radikalisierten und auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckten. «Wer einen Mord rechtfertigt oder sogar begrüßt, bereitet den Boden für neue Gewalt», sagte die SPD-Politikerin. Das Internet sei kein rechtsfreier Raum. «Hass tötet.» Die Ministerpräsidentin betonte: «Wir diskutieren mit den Menschen, die Sorgen haben, aber wir ziehen auch eine ganz klare rote Linie bei Verschwörungsmythen, bei Gewalt und bei Hetze.»

Für Lamberty wäre ein erster Schritt eine Politik, «die sich klar äußert zu Querdenken als Problem und das nicht als Kritik verharmlost.» Es brauche außerdem eine schnellere Strafverfolgung.

Das Unbehagen im Alltag

Wie aber reagiert man nun, wenn jemand die Maske nicht trägt oder sogar aggressiv auftritt? «Ich glaube nicht, dass jeder jetzt in einer unmittelbaren Gefahr ist und es ist auch wichtig, sich das klar zu machen», sagt Pia Lamberty. «Man kann was sagen - aber die eigene Sicherheit sollte man dabei immer auch im Blick behalten.»

Die Frage sei aber auch, wer die Maskenpflicht eigentlich durchsetzen soll. «Ist das wirklich etwas, was man von einer Kassiererin erwarten kann - oder braucht es da nicht vielleicht andere Ansätze?» Das könne etwa eine Security-Person im Laden sein. Bislang seien die Menschen damit oft allein gelassen. «Diese Tat wirkt nicht nur darin, dass ein Mensch sterben musste, sondern sie macht auch etwas mit der Gesellschaft.»


Bildnachweis: © Christian Schulz/Foto Hosser/dpa
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